Wer sich ein Bein bricht, muss sich nicht erklären. Doch wer an der Seele erkrankt, wird der Gesellschaft unheimlich. Warum ist das so? Und warum ist das grundverkehrt? Ein Gespräch mit Prof. Dr. Marcel Sieberer, dem Ärztlichen Direktor der KRH Psychiatrie, über Rahmen, Vorurteile und warum in Wunstorf die Mauer schon viel früher fiel.
Was ist Psychiatrie heute? Und wann sollte ich zum Psychiater gehen?
Die Psychiatrie ist eine spezialisierte medizinische Fachdisziplin. Und doch ist sie viel mehr: Denn sie nimmt neben der Krankenversorgung zusätzliche Aufgaben in der Gesellschaft wahr. Dies wird schon beim Krankheitsverständnis deutlich: Was allgemein als psychisch gesund und was hingegen als krank einzustufen ist, wird durch Gesellschaft und Kultur maßgeblich mitbestimmt. Einen Psychiater sollte man aufsuchen, wenn es einem nicht selbst gelingt, eine psychische Krise zu meistern, oder wenn einem in bisher unbekanntem Ausmaß traurige Gefühle, Ängste, Schlafstörungen, ständige Sorgen oder Überlastungsgefühle im Alltag beeinträchtigen.
Welche therapeutischen Möglichkeiten bietet sie?
Wir kümmern uns bei der Therapie psychischer Störungen auch um die „Wechselwirkung“ zwischen dem Menschen, der Psyche und der Lebenswelt. Wir nennen dies das „Biopsychosoziale Modell“. Die Ursachen der Krankheit sind demnach nicht nur im Körperlichen, sondern auch in psychischen Faktoren und im sozialen Umfeld zu suchen. Genauso finden wir in allen drei Segmenten auch Ansätze zur Heilung. Bei seelischen Erkrankungen ist eine Früherkennung und ein entsprechender Beginn der Therapie wesentlich. Je früher man sich mit seinen vielleicht noch unspezifischen Beschwerden an einen Arzt wendet, gerne auch zunächst an den Hausarzt, desto leichter kann eine Heilung gelingen. Leider beobachten wir, dass viele Betroffene erst spät Hilfe suchen. Doch je länger die Seele leidet, desto höher ist das Risiko einer chronischen Entwicklung. Unser Therapieansatz im „Recovery Modell“ geht davon aus, dass wir den Patienten möglichst bis zur vollständigen Genesung begleiten.
Was zeichnet die Arbeit am Standort Wunstorf aus?
Die Psychiatrie Wunstorf zählt zu den größten Psychiatrischen Fachkliniken in Niedersachsen. Und sie gilt als eine Wiege der reformpsychiatrischen Bewegung. Unter der Leitung des damaligen Ärztlichen Direktors Dr. Asmus Finzen fiel 1975 nicht nur die Mauer um das Gelände, es ging von Wunstorf eine enorme Strahlkraft der Erneuerung aus. Die Psychiatrie öffnete sich zur Stadt hin und lud alle Wunstorfer Bürger in unseren wunderschönen Park ein. Die Langzeit-Stationen, auf denen Patienten oft jahrelang gelebt hatten, wurden aufgelöst. Heute haben wir spezialisierte Abteilungen, die ein sehr differenziertes und modernes Therapieangebot vorhalten, zum Beispiel für Menschen mit Süchten und für jedes Lebensalter und verfügen zudem über verschiedene ambulante und tagesklinische Angebote. Besonders wichtig ist uns die gute Kooperation und Vernetzung mit allen Anbietern psychosozialer Hilfen in der Region. Mit unserem systemisch-therapeutischen Ansatz beziehen wir zudem ganz bewusst das Umfeld und die Angehörigen der Patienten von Anfang an in alle Überlegungen ein.
Warum haben die Menschen Angst vor dieser Fachdisziplin?
Vielleicht, weil seelische Erkrankungen auf viele Menschen unheimlich wirken und so schwer „begreifbar“ sind. Für Außenstehende ebenso wie für viele Betroffene. Erkrankte fallen manchmal sprichwörtlich aus ihrem vertrauten Rahmen, werden anderen und sich selbst fremd - davor haben viele Menschen Angst. Niemand möchte jemand sein, an dem Mitmenschen Anstoß nehmen. Zudem sind seelische Erkrankungen schwerer fassbar. Sie sind im Allgemeinen nicht so leicht zu erkennen und einzustufen wie die meisten körperlichen Erkrankungen.
Warum wissen wir Menschen auf der Straße so wenig über psychische Erkrankungen - oder wenn, dann das Falsche?
Aufklärungsbemühungen gibt es für diesen Bereich noch nicht so lange - oder nur für wenige Erkrankungen. Wegweisend und vorbildlich ist da natürlich das „Bündnis gegen Depression“. Ende Oktober hatten wir zum Thema Depression einen Aktionstag in der Wunstorfer Innenstadt. Damit sind wir bei der Bevölkerung auf großes Interesse gestoßen und konnten einige Berührungsängste abbauen. Verbessert hat sich auch der Wissensstand über Demenz, auch weil die Zahl der Betroffenen zunimmt. Aber für viele andere Krankheitsbilder trifft dies noch nicht zu. Betroffene werden noch immer ausgegrenzt und als Eigenexperten kaum gehört. Die Stigmatisierung setzt sich damit bis in die Institutionen fort: Für Diabetes-Patienten oder Herz-Kreislauf-Erkrankte gibt es starke Verbände, die wirksame Lobbyarbeit machen. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen gilt das leider noch nicht.
Was hat Psychiatrie aus ihrer Geschichte gelernt?
Dass sie sich öffnen und als Teil der Gesellschaft verstehen muss. Die Psychiatrie hat sich seit Mitte der 1970-er Jahre aus einer institutionellen Abschottung herausbewegt. Früher war sie vielerorts ein Raum mit eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten, denen die Patienten und zum Teil auch die Mitarbeiter unterworfen waren. An die Stelle eines Fürsorgekonzepts, in dem häufig der Arzt allein bestimmte, was für den Patienten gut sein sollte, ist ein therapeutisches Beziehungskonzept getreten. Alle wesentlichen Entscheidungen werden heute mit dem Patienten gemeinsam gefällt - innerhalb der Grenzen, die nötig sind. Selbstgefährdende Schritte müssen wir natürlich verhindern. Ganz klar ist: Es gibt keine Eigenmächtigkeit mehr auf Seiten der Klinik. Nichts passiert im Verborgenen. Auch bei der Anwendung von Zwang: Kein Mitarbeiter kann so eine Maßnahme alleine entscheiden. Eine Fixierung beispielsweise muss immer von einem Gericht genehmigt werden. Jegliches Handeln in der Psychiatrie basiert heute auf klaren Leitlinien für alle. Von der damit gewonnenen Transparenz profitieren alle Beteiligten.
Welche Bedeutung hat die Arbeit mit Angehörigen für die Genesung der Patienten?
Die Arbeit mit und für Angehörige ist ein wesentlicher Bestandteil ganzheitlicher Behandlungsansätze in der Psychiatrie. Inzwischen wird die Angehörigenarbeit daher auch in den Leitlinien der Fachgesellschaften besonders erwähnt. Sie ist wichtig für die Behandlung. Je schlechter das persönliche Umfeld in die Behandlung integriert ist, desto schlechter ist auch die langfristige Prognose. Zuweilen haben Angehörige Angst davor, die Therapie könne vielleicht zu einer Trennung führen. Wir raten unseren Patienten in der Regel, keine weichenstellenden Lebensentscheidungen in der akuten Erkrankung oder zu Beginn einer Therapie zu fällen. Gerade an diesem Punkt ist es auch wichtig, Angehörige frühzeitig in die Therapie einzubeziehen.
Tabletten gegen Schmerzen nehmen die meisten Menschen ohne jede Bedenken. Medikamenten gegen seelischen Schmerz haftet dagegen ein großer Makel an. Zu Recht?
Über Psychopharmaka kursieren einige Vorurteile: Sie machen angeblich abhängig, sie verändern die Persönlichkeit und sie helfen nicht. Alle diese Vorurteile sind falsch. Psychopharmaka können einen Genesungsprozess unterstützen oder beschleunigen. Gerade bei schwerwiegenden Krankheitsverläufen sind sie häufig unverzichtbar. Aber sie sind natürlich auch kein Allheilmittel und sollten nur ein Teil der Behandlung sein. Psychopharmaka behandeln nur das Symptom, nicht die Ursache. Und wie alle Medikamente haben sie Nebenwirkungen, über die gut aufgeklärt werden muss. Tatsächlich komplizierter sind sie in Bezug auf mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Deshalb müssen Nutzen und Risiken im Einzelfall immer sorgfältig gegeneinander abgewogen werden.
Wie entwickelt sich die KRH Psychiatrie weiter?
Wir werden die Öffnung der Kliniken in Wunstorf und Langenhagen konsequent weiter vorantreiben und Angebote entwickeln, die mehr Patienten in ihrem direkten Wohnumfeld erreichen können. So offen wir hier auch sind, für einen Großteil Hannovers und der Region sind wir mit unseren Kliniken schon räumlich immer noch am Rand der Gesellschaft und nicht mitten drin. Schon jetzt verfügt die KRH Psychiatrie über Tageskliniken und ambulante Therapieangebote vor Ort. Aber wir wollen die Patienten zukünftig noch besser in ihren Gemeinden erreichen und weniger zentralisiert arbeiten.
Welche Zukunft würden Sie sich wünschen?
Psychiatrie ist auch ein Spiegel der Gesellschaft. Wir gehören mitten in sie hinein und nicht in ein Hinterzimmer. Wenn die Gesellschaft Ansprüche an die Psychiatrie stellt, ist das gut so, aber dann sollte sie sich auch konkret für sie engagieren. Und: Wir brauchen mehr Angebote der Prävention, also für die Vorbeugung psychischer Erkrankungen, und der Rehabilitation. Manche Behandlung in den Krankenhäusern könnte sicher kürzer verlaufen, gäbe es mehr Möglichkeiten zur psychiatrischen Rehabilitation. Dieser Bereich ist eindeutig noch entwicklungsfähig.
Interview: Rebekka Neander