
Aufmerksamkeit und Erfahrung: Prof. Dr. Jochen Wedemeyer, Ärztlicher Direktor am KRH Klinikum Gehrden und Facharzt für Gastroenterologie und Hepatologie, erfasst den Zustand eines Patienten oft bereits auf den ersten Blick.
Ohne den Einsatz der menschlichen Sinne funktioniert gar nichts – das zeigt sich bereits bei der ersten Begegnung von Arzt und Patient im Klinikalltag. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – das sind die klassischen fünf Sinne des Menschen. Dazu kommen Wahrnehmung von Temperatur, von Bewegung und Verhalten. Der richtige Einsatz ihrer Sinne ist für die behandelnden Ärzte elementar bei der Beurteilung von Krankheiten.
Für Ingo Gerstmann, Oberarzt in der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie am KRH Klinikum Neustadt, steht das Gehör an erster Stelle. Und zwar weniger, um Bauchgeräusche oder Herztöne zu ermitteln. „Das Wesentliche ist doch das Zuhören. Ich muss fragen und hören, was der Patient zu sagen hat. Das bringt mich einer kompetenten Diagnose ein großes Stück näher.“
Schon der erste Blick verrät viel
Die Anamnese, also die persönliche Vorgeschichte zu Erkrankungen, sei besonders in der Chirurgie ungemein wichtig, „sie grenzt die Beschwerden eindeutig ein“, betont der Mediziner. Apparatemedizin kommt laut Gerstmann meist als der zweite Schritt – „um zuvor per Sinneswahrnehmung gestellte Diagnosen zu bestätigen und zu spezifizieren“.
Der Gesamtzustand könne meist auf den ersten Blick erfasst werden. „Kann der Patient stehen oder muss er liegen? Wirkt er geplagt von Schmerzen? Ist die Haut gelblich, lässt das Gallen- und Leberprobleme vermuten, blass-bläulicher Teint kann etwas mit dem Herzen zu tun haben.“ In seinem Fachgebiet zählt natürlich auch das Tasten: „Der Bauch sagt mir jede Menge. Ist er weich, hart, kalt, heiß, gespannt, gebläht? Ich spüre während der Untersuchung den Reflexen nach und ziehe dadurch diagnostische Schlüsse etwa zu Darmverschluss oder Blinddarmentzündung“, so der Chirurg.
Das Sehen und Riechen spielen zusätzlich eine große Rolle. Gerstmann nennt offene Wunden, Harnwegsinfekte und Atemluft als Beispiele. „Bestimmte Keime haben einen spezifischen Geruch und riechen zum Beispiel nach Lindenblüte – klebrig und süßlich.“
„Die körperliche Untersuchung mit allen Sinnen ist fachspezifisch sehr unterschiedlich und symptombezogen. Sie kann auch die Untersuchung von Körperöffnungen einschließen.“ Der Mediziner betont aber auch, dass die Sinne weniger einzeln, sondern vor allem gemeinsam dazu beitragen, optimale Ergebnisse zu erzielen. „Weit mehr als 50 Prozent der Befunde und Behandlungsabläufe lassen sich mit den Sinnen sichern.“ Apparative Untersuchungen wie Ultraschall, Röntgen oder Endoskopie würden die so erstellte Arbeitsdiagnose dann meist noch ergänzen oder komplettieren.
Die Wahrnehmung muss geübt werden
Prof. Dr. Jochen Wedemeyer, Ärztlicher Direktor am KRH Klinikum Gehrden sowie Facharzt für Gastroenterologie und Hepatologie, betont, dass er die Diagnose schon treffen könne, wenn er den Patienten in Augenschein nimmt. Er achtet auf Haut, Hände und Fingernägel seines Gegenübers, er erfasst Geräusche in Bauch, Lunge und Herz. „Das Auge muss natürlich geschult sein, um schnell wahrzunehmen und Schlüsse zu ziehen.“ Ein praller Leib lasse Rückschlüsse auf Erkrankungen im Bauchraum zu, chronische Lungenerkrankungen seien unter anderem an Rippenstand und veränderter Haltung des Oberkörpers zu identifizieren.
„Ausgeprägte Harnwegsinfekte indes kann man riechen, eine veränderte Atemluft lässt zu dem auf Leber- oder Nierenerkrankungen schließen.“ Und auch die Hände des Patienten spielen bei der Diagnose eine zentrale Rolle. „Veränderungen an den Fingernägeln können Hinweis auf Herz-, Lungen-, Leber-, Hauterkrankungen geben. Sie zeigen uns aber auch, ob Patienten ihre Finger pflegen, oder ob der Patient Raucher ist“, sagt der Professor. Zysten, Knoten und Hernien (der „Bruch“ etwa des Bauchfells) zu fühlen müsse ein Arzt allerdings lange geübt haben, „das funktioniert nur mit viel Erfahrung und Routine“.
Der Geschmack indes spiele in der heutigen Medizin nur noch eine untergeordnete Rolle. „Früher wurde die Urinprobe wörtlich genommen, ein Relikt, das allerdings wohl kaum vermisst wird heutzutage.“ Prof. Wedemeyer legt Wert auf den ersten Eindruck, seine geschulten Sinne unterstützen ihn dabei – „ohne Krankenakte und Bildgebung“. Denn nicht unbedingt kann Medizintechnologie mehr als der Mensch. „Eingeklemmte Nerven am Bauch etwa lassen sich ausschließlich durch das Fühlen ermitteln und mit keiner Bildgebung darstellen.“