
Initiatoren: Dr. Emanuel Strüber (l.) und Ingo Volker Rembitzki.
Schmerzen kennt jeder. Und fürchtet sie. In jedem dritten Haushalt in Europa lebt ein Mensch, der unter Schmerzen leidet. Etwa 17 Prozent aller deutschen Bundesbürger sind laut Deutscher Schmerzgesellschaft von langanhaltenden chronischen Schmerzen betroffen – also mehr als 12 Millionen. Bei mehr als der Hälfte aller Menschen mit chronischen Schmerzen dauert es mehr als zwei Jahre, bis sie eine wirksame Schmerzbehandlung erhalten, und nur ein Zehntel aller Patienten mit chronischen Schmerzen werden überhaupt einem Spezialisten vorgestellt.
(Wie) Kann Gewebesteifigkeit reduziert werden?
Eine klinische Anwendungsbeobachtung und eine geplante kontrollierte klinische Studie am KRH Klinikum Lehrte beschäftigt sich mit chronisch schmerzhaften Narbenbeschwerden nach operativen Eingriffen an der Lendenwirbelsäule. Die spannende Frage: Kann mittels der medizinischen Anwendung kleiner Nadeln, dem sogenannten Microneedling, die Gewebesteifigkeit des Narbengewebes und angrenzender Bereiche reduziert werden und eine verbesserte Gewebeelastizität zu einer deutlichen Verringerung der Schmerzen führen?
Narbenschmerzen können verschiedene Ursachen haben. Dabei ist allerdings nicht geklärt, warum manche Narben völlig schmerzfrei sind, während andere Probleme machen. Auch die Tatsache, dass manche Narben erst nach mehreren Jahren zu schmerzen beginnen, lässt sich noch nicht vollständig erklären. Das festere Narbengewebe und die angrenzenden Gewebebereiche sind meist weniger flexibel als das übrige Gewebe. Dadurch schmerzt oder spannt es bei Bewegungen und kann diese einschränken. Eine Theorie für die Entstehung von chronischen Narbenschmerzen ist die erhöhte Gewebesteifigkeit des Narbengewebes und die sogenannte Neuromenbildung. Kleinste Nervenendigungen führen zu einer erhöhten Sensitivität im Narbenbereich, bei gleichzeitig geringerer Elastizität der Narbe.
Die Häufigkeit chronischer Narbenschmerzen nach einem chirurgischen Eingriff liegt bei 30 bis 50 Prozent. Eingeschränkte Gewebe- und Nervenbeweglichkeit durch die Narbe können zu einer Schmerzverstärkung bei Bewegung führen. Betroffene leiden aber nicht nur unter dem Dauerschmerz, sondern auch unter den zunehmenden körperlichen Einschränkungen im Alltag. Dies geht oft mit depressiver Stimmung, Ängsten, Schlafstörungen und verminderter Konzentration einher.
Relevanz des Themas
Das Thema beschäftigt mit Prof. Dr. Robert Schleip auch einen der weltweit führenden Faszienforscher. Durch seine wissenschaftlichen Arbeiten hat er maßgeblich zur modernen Erforschung des Fasziengewebes beigetragen. Für ein an der DIPLOMA Hochschule in Hannover stattfindendes Myofasziales Schmerzsymposium war er nicht nur Teil des Organisationsteams, sondern auch wissenschaftlicher Leiter. In dieser Funktion gewann er auch Ingo Volker Rembitzki, Physiotherapeut und Leiter der therapeutischen Bereiche am KRH Klinikum Lehrte als Referenten, der zum Thema Myofasziale Schmerzsyndrom (MSS) sprach.
Das Myofasziale Schmerzsyndrom
Das Myofasziale Schmerzsyndrom ist ein Syndrom, das durch Schmerzen unterschiedlichster Wahrnehmung im Bewegungsapparat, vor allem an Muskeln, Sehnen und Faszien gekennzeichnet ist. „Betroffene klagen häufig über eingeschränkte Beweglichkeit, Muskelschwäche und ein erhöhtes Spannungsgefühl in den betroffenen Bereichen“, erläutert Rembitzki. Das MSS tritt häufig bei Menschen zwischen 30 und 60 Jahren auf. Statistisch gesehen sind Frauen etwas häufiger betroffen als Männer.
Das MSS kann unterschiedliche Ursachen haben. Häufig besteht ein Missverhältnis zwischen körperlicher Belastung und Belastbarkeit in den betroffenen Körperregionen. Bewegungsmangel, Stress, psychische und einseitige Belastungen sowie vorausgegangene Verletzungen begünstigen die Entwicklung von Muskelverspannungen sowie Faszienverklebungen, die sich über den gesamten Körper ausbreiten können. Langfristig können sich daraus Funktionsstörungen, Blockaden und Haltungsschäden ergeben.
Neben den lokalen Schmerzen können durch die miteinander verwobenen Gewebestrukturen auch Beschwerden an anderen Körperregionen auftreten, die auf den ersten Blick keinen direkten Zusammenhang haben. „In der klinischen Praxis müssen wir unterscheiden, ob es sich um myofasziale Schmerzen oder Schmerzen aufgrund anderer Ursachen handelt“, betont Rembitzki.
Klinische Anwendungsbeobachtung in Lehrte
Am KRH Klinikum Lehrte startete unlängst eine klinische Anwendungsbeobachtung zum Thema Chronische Narbenschmerzen und medizinische Microneedling- Anwendungen. Der Leiter der therapeutischen Bereiche Rembitzki und Dr. Emanuel Strüber, Chefarzt der Klinik für Spezielle Schmerztherapie, haben dieses Thema im Bereich der multimodalen Schmerztherapie am Klinikum identifiziert. „Multimodal bedeutet, dass wir auf unserer Schmerzstation gemeinsam mit Internisten, Anästhesisten, Chirurgen, Orthopäden, der Physiotherapie sowie Psychologie arbeiten“, betont Dr. Strüber. Denn vor allem chronische Schmerzen gingen oft mit Erschöpfungsdepressionen und diversen Belastungsfaktoren einher. Etwa 900 Schmerzbetroffene werden jährlich im Klinikum behandelt, rund fünf Monate im Voraus sind alle Termine ausgebucht. Von den am Klinikum behandelten Schmerzpatienten leiden rund 70 Prozent unter chronischen Schmerzen, bei 30 Prozent handelt es sich um postoperative Narbenschmerzen. „Für eine optimale Schmerzeinstellung und gezielte Therapie bedarf es eines stationären Aufenthaltes.“
Ziel: Signifikante Verringerung der Narbengewebesteifigkeit
„Ein Zusammenhang zwischen Narbenschmerzen, insbesondere im Bereich der Lendenwirbelsäule und der Gewebesteifigkeit ist noch nicht abschließend geklärt“, erläutert Rembitzki. Sowohl bei der klinischen Anwendungsbeobachtung als auch der geplanten interventionellen, kontrollierten Studie werden stationäre Schmerzpatienten und -patientinnen nach einer Bandscheiben-Operation der Lendenwirbelsäule und weiterhin bestehender Schmerzen im Narbenbereich mit dem sogenannten Microneedling behandelt. Positive Effekte durch Microneedling bei verschiedenen Arten von Narben wurden bereits berichtet. Bei bis zu 74 Prozent der betroffenen Patienten konnte nach den Anwendungen bereits eine Veränderung der Narbe bezüglich Unregelmäßigkeit, Dicke, Elastizität und Schmerzen festgestellt werden. Ein direkter Zusammenhang zwischen Narbengewebesteifigkeit, Gewebe- und Nervenelastizität und der damit verbundenen Eigenschaft der Bewegungsenergie, Zwischenspeicherung semielastischer Strukturen im Körper, der klinischen Anwendung von Microneedling und Schmerzen steht jedoch noch weitestgehend aus.
„Ziel der Behandlung ist die signifikante Verringerung der Narbengewebesteifigkeit und damit einhergehender möglicher lokaler Schmerzzustände“, erklärt Rembitzki. Die medizinischen Microneedling-Anwendungen werden mit einem sogenannten Dermaroller, der als Medizinprodukt für die Therapie von Narben zugelassen ist, zwei- bis dreimal innerhalb des stationären Aufenthaltes durchgeführt. Gemessen werden Gewebesteifigkeit und -elastizität standardmäßig vor der ersten und nach der letzten Anwendung mit einem validierten Palpationsgerät. Die Schmerzangaben werden ebenfalls zu Beginn und am Ende der stationären Therapie mittels einer klinischen, nummerierten Skala abgefragt.
„Wir vermuten einen Zusammenhang zwischen der Gewebesteifigkeit und den chronischen Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäulennarben, die bestenfalls bei einer zusätzlichen Therapie mit Microneedling durch eine verbesserte Gewebeelastizität verringert werden können“, so die Experten. „In Einzelfällen sehen wir sehr gute Ergebnisse innerhalb des stationären Klinikaufenthaltes.“