
Senior*innen mit mehreren schweren Erkrankungen, die außerdem eine immobilisierende Verletzung erleiden, stellen für die Behandler eine besondere Herausforderung dar. Zu ihrer Genesung arbeiten verschiedene Berufsgruppen der Altersmedizin eng zusammen.
Eine Seniorin, wie sie bestimmt jeder von uns kennt: Zwar schon 82 Jahre alt, aber alleinlebend und fähig, sich selbstständig zu versorgen. Eine, die weitermacht, trotz reduzierter Herzleistung, erhöhtem Blutdruck und gelegentlichen Schwindelanfällen. Stationsleitung Jennifer Müller erinnert sich: „Doch eines Tages stolperte die Frau über eine Türschwelle, beim Sturz zog sie sich einen Oberschenkelhalsbruch zu.“ Im KRH Klinikum Neustadt am Rübenberge wurde die Patientin sofort operiert, danach von der unfallchirurgischen Abteilung in die Akutgeriatrie verlegt. Hier werden Menschen ab 70 Jahren behandelt, die sich wie die beschriebene Patientin einen Bruch zugezogen oder beispielsweise einen Schlaganfall erlitten haben – und die außerdem noch sich gegenseitig beeinflussende Nebendiagnosen wie Diabetes mellitus, Bluthochdruck oder Elektrolytentgleisungen aufweisen. Geriatrie lässt sich übersetzen mit Altersmedizin. Hier arbeitet ein Team unterschiedlicher Fachleute zusammen. So wird nicht nur die aktuelle Verletzung oder das jüngste Krankheitsereignis bestmöglich versorgt. Vielmehr besteht die Aufgabe des Behandlungsteams primär darin, das Sterblichkeitsrisiko der Patienten etwa mit hüftgelenksnahen Brüchen zu senken und sekundär, die Alltagsfähigkeiten zu verbessern und Pflegebedürftigkeit zu verhindern.
Individuelle Behandlung
Während des in der Regel 14-tägigen Aufenthalts im Rahmen einer sogenannten geriatrischen Komplextherapie versuchen Fachleute aus Medizin, Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Psychologie und des Sozialdienstes, die individuelle Situation des Patienten oder der Patientin über Tests einzuschätzen. Dabei wird erfasst: Wie sind die Alltagsfähigkeiten, wie hoch ist das Sturzrisiko, gibt es Anzeichen für Demenz? Beim sogenannten Barthel-Index erfasst Jennifer Müller als geriatrisch geschulte Pflegefachkraft beispielsweise, ob oder wie viel Hilfe ein alter Mensch beim Essen, bei der Körperpflege, beim An- und Auskleiden und beim Gehen benötigt. „Von 100 möglichen Punkten erzielte die beschriebene Patientin anfangs nur 25.“ Bei der alten Dame gehörte zum persönlichen Behandlungsplan eine Anpassung des erhöhten Blutdrucks und eine gezielte Schmerztherapie unter besonderer Berücksichtigung der reduzierten Organfunktionen. Ergänzend zur aktivierend-therapeutischen Pflege, um die Patientin wieder fit zu machen für Alltagshandlungen, kamen kognitive und motorische Übungen, Kraft- und Ausdauertraining, Sprachtherapie sowie eine individuelle Beratung durch eine Mitarbeiterin des Sozialdienstes zur Versorgung nach dem Klinikaufenthalt.
Werte verbessern sich
„Komplexe Patienten verlangen nach einem komplexen Ansatz“, bestätigt PD Dr. Martin Panzica. Der Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie nennt Faktoren, die eine Behandlung alter Patienten beeinflussen: brüchige Knochen, die Einnahme von blutgerinnungshemmenden Mitteln, reduzierte Lungen- und Nierenfunktion. Unterschiedliche ärztliche Fachrichtungen klären gemeinsam, wie die zu behandelnde Person auf einen chirurgischen Eingriff vorbereitet wird. Neben dem Operateur gehören beispielsweise Herzspezialisten und Neurologen der sogenannten Decision Unit an. Bei manchen Einschränkungen, dazu zählen eine unzureichende Flüssigkeitszufuhr oder Blutarmut und Herzrasen, lässt sich präoperativ gegensteuern und somit die Ausgangsituation für eine Operation verbessern. PD Dr. Panzica: „Es gibt schonende Narkosen. Je nachdem, um welche Verletzung es sich handelt, können Eingriffe wie die Implantation eines künstlichen Hüftgelenks auch über weichteilschonende Zugänge minimalinvasiv erfolgen.“ Bei Oberschenkelbrüchen erspart etwa der Gammanagel eine große offene Operation. Wenn Orthopädie und Unfallchirurgie gemeinsam mit den Geriatern von der Inneren Medizin zusammenwirkten, dann sei ein patientenorientiertes „orthogeriatrisches Co-Management“ realisierbar. „Ziel ist, die Patienten wieder aufrecht zu bekommen und eine Frühmobilisation zu ermöglichen.“ Im Falle der 82-Jährigen ist dies offensichtlich gelungen. Jennifer Müller: „Bei ihrer Entlassung hatte sich ihr Wert im Barthel-Index von anfänglich 25 auf 80 verbessert.“
„Was ist wirklich nötig?“
Je älter ein Mensch, desto höher das Risiko für Erkrankungen und Einschränkungen des täglichen Lebens. Solche Patientinnen und Patienten sind meist in Behandlung bei mehreren Ärzten. Wenn diese dann Medikamente verschreiben, nehmen Senioren nicht selten fünf oder mehr verschiedene Wirkstoffe zu sich. „Oft haben wir es mit einer Verordnungskaskade zu tun“, erklärt der Internist und Gesundheitswissenschaftler Dr. Martin Stolz, Ärztlicher Direktor der KRH Geriatrie Langenhagen und Chefarzt für Altersmedizin am KRH Klinikum Nordstadt. Er betont, dass es sehr wichtig sei, sämtliche Medikamente zu erfassen, die jemand zu sich nimmt. Jedes Medikament könne erwünschte und unerwünschte Wirkungen haben. Letztere könnten dann zu so schweren Symptomen führen, dass der Patient im Krankenhaus behandelt werden muss. Anderer Fall: Eine neue, zusätzliche Arznei verträgt sich nicht gut mit den bisher verschriebenen Medikamenten. Dann gehe es um mögliche Alternativen, vielleicht könne auch die Dosis verringert werden. Empfehlenswert sei ein klarer, vollständiger Medikationsplan. Und die elementare Frage, die nur der behandelnde Arzt beantworten kann: „Was ist für diesen Patienten in dieser Situation wirklich nötig, was vielleicht auch bedrohlich?“