Wie viel Sinnsuche macht Sinn? Und wie kann bei einer Sinnkrise geholfen werden? Die Ursachen sind individuell und haben oft auch mit der jeweiligen Lebensphase zu tun. „Bei Kindern und Jugendlichen sprechen wir vor allem von einer Sinnfindungskrise“, sagt Dr. Tobias Hartwich, Leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiater an der KRH Psychiatrie Wunstorf. „Jugendliche Ideen passen dann nicht zu der gefühlten Erwartung, die Erwachsene und die Gesellschaft an sie haben. Das verunsichert die jungen Menschen und ihr Selbstbild“, sagt der Experte.
Soziale Medien und Trends irritierten viele junge Menschen, „die mittlerweile sehr komplexe Suche nach sich selbst reicht zum Teil bis zu einer Verunsicherung der sexuellen Orientierung“, sagt Dr. Hartwich. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie unterstützt ihre jungen Patienten in der Therapie mit gezielten Fragen und Gesprächen vor allem dabei, sich selbst zu finden und herauszufinden, wer sie sein möchten. „Die Sinnfindungskrise mündet leider immer häufiger auch in Depressionen und Gedanken, nicht mehr leben zu wollen“, betont Dr. Hartwich. Die Patienten werden einerseits gestärkt, indem sie etwa ihre positiven Seiten erkennen und sich annehmen können, wie sie sind. Hierbei unterstützen auch viele körperorientierte Therapien, in denen alle Sinne angesprochen werden. Selbstakzeptanz sei ein zentraler Schlüssel zu persönlicher Sinnfindung. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, in welchen Situationen oder unter welchen Umständen gehadert wird. Diese Situationen sollen dann langfristig nicht vermieden, sondern umgekehrt und mit positiven Gefühlen besetzt werden.
Die „Sinnhaftigkeit des Daseins“ beschäftigt auch die Klientel von Sabine Kirschnick-Tänzer. Die Oberärztin und Kollegin von Tobias Hartwich ist im Bereich der Allgemeinpsychiatrie tätig: Wer älter als 18 Jahre ist, wird hier begleitet. „Sinnsuche bedeutet ja auch, Sinn zu finden, und das wiederum bedeutet Hoffnung und Zuversicht“, betont Kirschnick-Tänzer. Selbstfindung und Ich-Stärkung gehören zur Therapie. Für den Prozess von Selbststärkung sind Imagination und Kreativität von wesentlicher Bedeutung, daher spielen auch Ergo- oder Kunsttherapie eine zentrale Rolle. Im therapeutischen Prozess können konstruktive Lösungsideen entwickelt und verloren geglaubte Ressourcen reaktiviert werden. Imagination öffnet den Raum für das, was sein könnte. „Aber zunächst einmal analysieren wir gemeinsam, was zu der Sinnkrise geführt hat.“
Der Sinn des Lebens ist individuell
Die Psychiaterin erlebt oft, dass die Frage nach einem Sinn im Leben im suizidalen Kontext gestellt wird. „Elementar ist es, herauszuarbeiten, was für den Einzelnen Sinn ausmacht.“ Das können Bezugspersonen sein, eine erfüllende Arbeit oder schöne Momente wie ein Sonnenuntergang. „Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird immer wieder neu gestellt und erfordert stetig neue Positionierung“, betont Kirschnick-Tänzer.
Dr. Hartwich und Kirschnick-Tänzer sind sich einig, dass es bei der Suche nach dem Lebenssinn sehr individuelle Ansätze gibt. „Was für den Einzelnen sinnvoll oder auch sinnlos ist, hat selten denselben Stellenwert für andere.“ Der eine sieht seinen Lebensinhalt in Beruf oder Familie, der andere findet sich im Extremsport. Einer empfindet ein Dasein ohne Partner als sinnlos, der zweite empfindet die Partnerschaft als Begrenzung seiner selbst. „Sinnlosigkeit steht allerdings meist auch für Hoffnungslosigkeit, denn ohne persönlich identifizierten Sinn ist ein Leben kaum vorstellbar“, betont Dr. Hartwich. Sinnkrisen seien zudem oft mit dem Gefühl des Scheiterns verbunden. In der Therapie werde dann ein Plan fürs Leben erarbeitet, „dessen Umsetzung auch realistisch ist.“
Im Rückblick das Positive erkennen
Bei den Patienten des Gerontopsychiaters Dr. Arnd Hill indes ist neben dem Blick nach vorn auch die Rückschau ein wichtiges Element: „Viele blicken im Alter auf ihr Dasein zurück, denken über den Sinn ihres Lebens nach mit der Frage, ob sie ein sinnvolles Leben geführt haben“, sagt der Chefarzt der Klinik für Gerontopsychiatrie und Psychotherapie in der KRH Psychiatrie Wunstorf. In der Therapie gehe es oft um Erinnerungen, „wir sprechen über früher, es ist den Menschen wichtig, den Erfahrungen, Erlebnissen oder Entscheidungen auch im Nachhinein einen Sinn beizumessen.“
Vor allem Patient*innen mit Depressionen falle es schwer, Lebensverläufe als sinnvoll zu bewerten. „Wenn jemand glaubt, an einem Punkt gescheitert zu sein, ist das nachträglich häufig schwer einzuschätzen. Die therapeutische Aufgabe ist es, Patient*innen zu ermutigen, nicht defizitär zu denken. In der Erzählung über das Gewesene suchen wir mit unseren Patienten immer auch nach dem Geglückten“, so Dr. Hill. Im Alter werde auch der Gedanke an die nächsten Generationen wichtiger: „Etwa, dass man etwas weitergibt, beruflich oder durch Kinder und Enkel.“
Viele ältere Patient*innen würden die Vergangenheit rückblickend als schwer beschreiben. Aber Dinge können akzeptiert werden, gescheiterte Lebensentwürfe münden nicht automatisch in ein sinnloses Leben. „Manche Dinge gemeistert zu haben etwa, auch darin kann Sinn gesehen werden“, betont der Gerontopsychiater. Den klassischen einen Sinn des Lebens, da ist Dr. Hill sicher, gibt es nicht. „Es geht darum, sich Ziele zu setzen, die dem Leben Sinn geben, auch im Alter.“ Denn Alter bedeute nicht, unglücklicher zu sein als die Jüngeren. „Das Glücklichsein nimmt im Alter nicht zwangsläufig ab. Glück und Sinnhaftigkeit ist in jeder Lebensphase möglich.“