Wenn ein Kind in Not gerät, ruft es um Hilfe. Doch zuweilen lassen sich weder die Not, noch die Suche nach Hilfe in verständliche Worte fassen. Beides tarnt sich in Trotz, Wut oder Verschlossenheit. Kinder passen sich nicht mehr in ein soziales Gefüge ein, verweigern die Schule oder verkriechen sich hinter elektronischem Gerät. Doch was davon ist eine psychische Erkrankung und was das Ergebnis eines innerfamiliären Beziehungsproblems? Was davon ist beides? Oder löst das eine das andere aus?
„Schwierige Frage“, sagt Stephanie Hamburg. Sie ist Psychologin und therapeutische Leiterin in der Tagesklinik der Psychiatrie des Klinikum Region Hannover in Wunstorf. „Auf alle Fälle stellen Kinder mit besonderen Bedürfnissen auch eine besondere Herausforderung für die Eltern dar.“ In der Tagesklinik begegnet Hamburg Kindern im Vor- und Grundschulalter mit all ihren Problemen: Lese-Rechtschreib-Schwächen, Verhaltensauffälligkeiten, Kinder, die Regeln nicht gut einhalten können. „Aber durchaus auch Depressionen bis zu suizidalen Absichten.“ Sichtbar sind zunächst nur die Symptome. „Diese Kinder sind vielleicht auflehnend“, ergänzt Oberärztin Dr-medic Ursula Susa. „Sie üben Gewalt aus gegen Sachen, prügeln sich.“
Im Hintergrund, so Dr-medic Susa, stehen oft belastende Beziehungsfragen, manchmal von frühester Kindheit an. „Diese Kinder haben möglicherweise eine Bindungsstörung und wenig Vertrauen in Erwachsene. Sie haben oft schlimme Erfahrungen gemacht und zeigen auch Traumafolgestörungen.“ Hinzu kommen kleine Patienten, die unter einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom leiden, Autisten oder auch Kinder mit Angst- oder Ess-Störungen.
So vielfältig das Erscheinungsbild auch sein mag. Gemein haben diese Kinder eines: „Wir können bei Kindern in diesem Alter nur etwas erreichen, wenn wir die gesamte Familie mit ins Boot holen“, hält Anette Redslob-Hein fest. Sie ist Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Wunstorf. „Wer als Kind keine stabilen Beziehungen erlebt, ist anfälliger für psychische Erkrankungen“, betont die Chefärztin. Wenn Eltern nicht verlässlich erscheinen, lernen Kinder nicht, sich an Regeln zu halten. „Sie wissen nicht, was Empathie bedeutet oder wie man sich in die Rolle des anderen hineinfühlt“, sagt die Psychologin Hamburg. „Solche Kinder haben es sehr schwer.“ So sind umgekehrt Kinder in sicheren Familien stabiler. Dabei geht es jedoch nicht vordringlich um „Erziehungsfehler“. „Oft haben die Eltern selbst als Kinder schwierige Erfahrungen gemacht“, sagt Redslob-Hein.
Diesen Knoten zu entwirren gelingt nur, wenn alle mitmachen. Um Schuld oder Fehler geht es dabei keinesfalls. „Wir sind nicht die besseren Eltern“, betont Oberärztin Dr-medic Susa. Das einzige, was zähle, sei das Ziel. Dazu bezieht die Klinik die Eltern, so vorhanden auch die Geschwister, mit ein. Hier geht es vor allem darum, ein gemeinsames Verständnis für die Symptomatik zu entwickeln und eingefahrene Muster durch neue Lösungswege und Erfahrungen zu ersetzen, beschreibt es die Chefärztin Redslob-Hein.
Nicht immer gelingt dies. „Familien kommen zu uns, weil sie beispielsweise von Kinderärzten, den Betreuungseinrichtungen oder auch der Schule darum gebeten wurden“, erläutert Stephanie Hamburg. Zuweilen aber passt das Timing der Außenstehenden nicht zu dem der Betroffenen. „Wenn wir merken, dass die Eltern eventuell nur wenig mitarbeiten können, zu den angesetzten Gesprächen nur selten kommen, dann beenden wir eine Therapie auch mal vorzeitig“, betont Hamburg. Ohne aber die Brücke abzubrechen, wie Redslob-Hein betont. „Manchmal sind die Eltern nicht so weit. Deshalb bieten wir ihnen immer auch mehrere, niedrigschwellige Alternativen an.“ Das kann eine Familienhilfe sein oder eine andere ambulante Sprechstunde. Ungeduld helfe niemandem. Das Gegenteil ist gefragt, hebt Anette Redelob-Hein hervor. „Nicht selten suchen solche Familien später wieder den Kontakt zu uns.“